Shanghai ist Chinas bedeutendster Industrie-, Handels- und Finanzstandort – und befindet sich seit Ende März 2022 in einem weitgehenden Lockdown. Das betrifft Privatpersonen genauso wie Industrie und Logistik. Die Produktion setzt aus, Fracht bleibt liegen und schon wieder kommen die Lieferketten ins Stocken. Onlinehändler können die Krise zum Anlass nehmen, ihre Abhängigkeiten von China zu analysieren und zu reduzieren.

Was in Shanghai geschieht, spürt die ganze Welt

Anders als im ersten Pandemiejahr waren die chinesischen Behörden nach den jüngeren Anstiegen der Corona-Fallzahlen in unterschiedlichen Regionen bemüht, die wichtigen Containerhäfen offen zu halten. Nun aber steht die ostchinesische Hafenmetropole Shanghai mitten im Zentrum des größten Corona-Ausbruchs in der Volksrepublik seit Pandemiebeginn. Die Stadt ist seit Ende März abgeriegelt und die Shanghaier Häfen, darunter der Tiefwasserhafen Yangshan, arbeiten nur mehr mit reduzierter Kapazität, weil Hafenarbeiter nicht zur Arbeit gelangen.

Da es sich beim Shanghaier Hafenkomplex um die umschlagstärksten Häfen der Welt handelt, bleibt das nicht ohne Folgen auch für deutsche Händler. Deutsche Im- und Exporteure sahen sich im März beim Handel mit China mit einem Minus von 9,8 Prozent konfrontiert. Im April sind dann zusätzlich die Exporte aus den Shanghaier Häfen eingebrochen und die Engpässe und Überlastungen im Seefrachtverkehr nähern sich wieder den Werten des Corona-Spitzenjahres 2021 an: Weltweit stecken 12 Prozent der verschifften Waren ungelöscht vor Häfen fest. 2021 lag der höchste Wert bei 14 Prozent.

Der Warenabtransport über die Straßen ist noch stärker betroffen. Lkw-Fahrer dürfen die Stadt nur dann verlassen oder nach Shanghai hineinfahren, wenn sie einen negativen PCR-Test vorweisen können. Wenn doch etwas rollt, so verlangsamen die aufwändige keimfreie Reinigung von Transportbehältern, regelmäßige Corona-Testungen und ein hoher Anteil von Personal oder auch Warensendungen in Quarantäne den Transport erheblich. Und Shanghai strahlt aus: Über die Hälfte aller deutsche Unternehmen in China berichten von beträchtlichen Behinderungen in der Transport- und Lagerlogistik. 

Alternativen sind gefragt

Ob und wann sich die Lage in Shanghai und in Gesamt-China vollständig normalisieren wird, hängt primär davon ab, ob die chinesische Regierung von ihrer strengen Null-Covid-Politik zumindest teilweise abrücken wird. Dafür gibt es allerdings bis jetzt keinerlei Anzeichen. Noch Mitte April 2022 hat der chinesische Gesundheitsminister eine Abkehr von der nationalen Covid-Strategie und eine gelockerte Handhabung von Corona-Ausbrüchen ausgeschlossen. Immerhin bereiten sich in Shanghai einige Unternehmen, die sich auf einer „weißen Liste“ der Regierung befinden, auf eine Wiedereröffnung ihrer Werke unter strengen Schutzauflagen vor.

Das wird aber am Frachtstau nur wenig ändern und auch für krisengestählte Logistiker, die es gewohnt sind, auf Hemmnisse kreativ zu reagieren, ist es schlicht unmöglich, die blockierten Seefrachtkapazitäten zu kompensieren. Wahr ist, dass die Schienenverbindung von China nach Europa im Rahmen der Neuen Seidenstraße von der chinesischen Regierung massiv gefördert und ausgebaut worden ist. Aber selbst, wenn die Schienen-, Straßen- und Luftfracht nicht genauso von den Covid-Maßnahmen betroffen wären, böten sie doch trotzdem nicht die gleichen Transportkapazitäten wie die Seefracht und sind zudem meist deutlich teurer.

Wenn andere Transportmittel nur eingeschränkte Alternativoptionen bieten, ist eine naheliegende Option, die Transportrouten anzupassen. Doch auch wenn Spediteure im dritten Pandemiejahr mittlerweile Übung darin haben, Lieferkettenprobleme flexibel anzugehen und schon bei drohenden Engpässen ihre Routen anzupassen, lässt sich eine Wirtschaftsregion wie Shanghai beim Chinageschäft nur schwer „umschiffen“.

Eigene Strategien hinterfragen

Irgendwann wird die Corona-Pandemie ausgestanden sein und die Bilder von der Geisterstadt Shanghai, in der Millionen Menschen im Hausarrest verharren, werden verblassen. Fatal wäre es aber, aus der Krise keine Lehren für die Zeit danach zu ziehen. Alle diejenigen, die in den China-Handel involviert und derzeit direkt von den Entscheidungen der chinesischen Staatsführung betroffen sind, sollten ihr Geschäft zumindest im Hinblick auf künftige Schwachstellen hinterfragen.

Es geht hier nicht nur um kurz- und mittelfristige Maßnahmen und um die Frage, wie lange die strikte Null-Covid-Politik in der Volksrepublik noch aufrechterhalten bleibt. Es geht nicht einmal um Covid selbst, sondern um die ganz grundsätzliche Frage, ob es strategisch klug sein kann, sich von einem einzigen Produktions- und Umschlagsstandort zu sehr abhängig zu machen. Vor dieser Frage stehen sowohl demokratisch gewählte Regierungen und internationale Konzerne als auch Mittelständler und „kleine“ Einzelhändler im E-Commerce.

Vielleicht waren viele Marktteilnehmer zu optimistisch (oder schlicht zu naiv) in ihrer Annahme, dass das, was bislang so hervorragend funktioniert hat, auch etwaigen Belastungen schadlos standhalten würde. Zugegeben: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie hätte sich wohl kaum jemand in seinen schwärzesten Träumen ausmalen können, aber nun folgt die Einsicht: Wer seine Bezugsquellen schon im Vorfeld breiter gefächert hätte, wäre besser gegen gestörte Lieferketten gewappnet gewesen. Im Nachgang mag das wie ein wohlfeiler Ratschlag erscheinen, denn hinterher ist man immer schlauer – dennoch: Jetzt ist die Zeit, aus Schaden klug zu werden.

Außen- und Onlinehandel neu denken

Auf politischer Ebene hat ein Umdenken längst eingesetzt, etwa wenn erklärte Marktliberale wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordern, Abhängigkeiten zwischen Berlin und Peking „schnell und deutlich“ zu reduzieren. Und auch Unternehmen denken lautstark darüber nach, zumindest zukünftige Investitionen an andere Standorte zu verlagern. Nicht (nur) wegen der chinesischen Null-Covid-Strategie und den dadurch gestiegenen Frachtraten und Störanfälligkeiten des Transports, sondern auch wegen der Unberechenbarkeit autoritärer Regime.

Laut einer ifo-Umfrage aus dem Februar 2022 gab fast jedes zweite deutsche Unternehmen an, den Bezug chinesischer Vorleistungen reduzieren zu wollen und stattdessen auf andere europäische und außereuropäische Bezugsländer zu setzen. Ein wichtiges Argument neben den logistischen Problemen: die politische Unsicherheit. Nach den schmerzlichen Erfahrungen des Ukraine-Krieges dürfte die Zahl derer, die in politischer Willkür einen Standortnachteil sehen und Abhängigkeiten von einzelnen Erzeugerländern verringern wollen, noch größer geworden sein.

Rohstoffimport und E-Commerce: Das Prinzip ist das gleiche

Nun spielt China im deutschen Außenhandel eine wichtige, aber nicht die beherrschende Rolle – auch wenn in einigen Industriesektoren durchaus kritische Abhängigkeiten bestehen. Von diesen sind Online-Einzelhändler allerdings nicht betroffen und sie haben natürlich weniger weitreichende Entscheidungen zu treffen als Konzernlenker oder Staatsführer. Gleichwohl stehen Onlinehändler beim Chinageschäft vor vergleichbaren Problemen und nun vor der Aufgabe, ihren Einkauf zu diversifizieren und sich nicht nur auf wenige Bezugsquellen zu beschränken.

Konkret kann das bedeuten, für bestimmte Artikel alternative Erzeuger oder Anbieter zu ermitteln. Dabei geht es nicht zwingend darum, ein Angebot zu ersetzen, wohl aber um sinnvolle Ergänzungen. Derzeit gibt es einen spürbaren Trend zur Regionalisierung – als Kontrastmodell zur Globalisierung. Wie nachhaltig diese Entwicklung ist, bleibt abzuwarten. Immerhin hätte das auch deshalb Vorteile für die Versorgungssicherheit, weil kurze Lieferketten weniger störanfällig sind. Allerdings setzen alternative Konzepte Endverbraucher voraus, die nicht ausschließlich auf den Preis von Produkten achten – was auch von der jeweiligen Produktkategorie abhängen dürfte. Hier kommt es auf sorgfältige Analysen an, um zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen.